Pünktlich zu einer merkwürdigen Häufung von eigenartigen Reaktionen wurde ich im August doppelt auf die Soziologin Laura Wiesböck aufmerksam. Sie setzt sich mit der Thematik der Scham, besonders im Bezug auf Frauen und deren Sexualität auseinander.
Das kam mir gelegen, denn mir starrten damals ständig Leute auf die Brüste.
Interessanterweise häufte es sich kurzfristig, obwohl mein Kleidungsstil seit Jahren der gleiche ist, und ich seit wahrscheinlich Mai die gleichen Kleidungsstücke rotierte. Aber plötzlich sackte der Blick von Leuten im Gespräch mit sowohl Frauen als auch Männern, zu meinem jetzt unzivilisierbaren Baumel-Busen, wegen dem ich mich viel zu lange geschämt habe.
Jetzt tue ich es nicht mehr, weil ich mir seit Jahren bewiesen habe, dass kein*e Betrachter*in an Augenkrebs oder ich vor Scham gestorben bin.
Wichtige Info für viele, vor allem junge Frauen: Es gibt einige Leute, denen meine Brust tatsächlich gefällt, genau so, wie sie ist. Das bedeutet nicht, dass ich plötzlich stolz auf meine Brüste bin, nein. Viel eher haben sie ihren Platz gefunden und müssen weder bewertet, noch mit Scham oder Stolz belegt werden.
Nachdem ich aufgrund von Bequemlichkeit und später dann Atemnot beim Tragen von BHs aufgehört habe, meine Brüste an den Körper zu zurren und in die gesellschaftlich anerkannte Form zu pressen, musste ich mir anfangs noch erklären, dass die gute Seite daran ist, dass ich damit auch einen gesellschaftspolitischen Bildungsauftrag erfülle. Junge Mädchen wissen heute nämlich nicht mehr, dass die Brüste von den meisten Frauen ganz unterschiedlich aussehen. Und auf welche Weise unterschiedlich.
Dass Brüste nicht automatisch sexuell sind, ist bei uns ein exotischer Gedanke.
Auch die Vulva, die Körperbehaarung, die Körperform von uns Frauen wird schon lange nur noch sexualisiert wahrgenommen. Was nicht als attraktiv, sexuell begehrenswert gelten darf, ist wertlos bis belastend und soll bitte versteckt werden. So wird uns Scham eingeredet, wo sie völlig unangebracht ist.
Exkurs: Ich wurde sogar am Markt schon von einem Kollegen gebeten, mir doch einen BH anzuziehen. Weil es so nicht gut wäre. (Ich habe gelacht und Nein gesagt.)
Das geht so weit, dass Männer sich darüber beschweren, wenn Frauenkörper(teile) unsexualisiert dargestellt werden.
Und erst mit dieser offenkundigen Anspruchserhebung auf Sexualisierung kann ich nachvollziehen, warum die Reaktionen auf ganz normale Körper teils so emotional ausfallen.
Wir brauchen nur ins erzkatholische Italien zu schielen, wo die beeindruckende Lebensretterin Carola Rackete beim Gerichtstermin für Aufruhr sorgte, weil ihre Brust nicht gezähmt war. Und wir können uns auch erinnern an den Aufruhr um Merkel, der Anlass zur Frage gab: Wieviel Dekolleté darf die Kanzlerin zeigen?
Eine Freundin erzählte mir neulich auch ganz glücklich, dass sie eine innere Hürde überwunden hat – endlich oben ohne in der Sonne! Weil da momentan niemand ist, der ihre Brüste für sich beanspruchen könnte, als einer von mehreren Faktoren.
Laura Wiesböck zitierte in der Ö1-Sendung „Schämen wir uns!“ den Philosophen Slavoj Zizek, der Feministinnen kritisierte, welche Menstruation thematisierten oder unsexualisierte Bilder von Vulven zeigten.
Mit der Begründung, dass es unsexy wäre.
Und nachdem ich einen Schwall der Empörung veratmet habe, kann ich nun erklären, dass ich diese Ansicht für pervers ignorant halte.
Wenn junge Mädchen, spätere Frauen und Mütter, in dem Bewusstsein aufwachsen sollen, dass ihre Körper völlig okay bis wunderbar spektakulär auf mannigfaltigste Weisen sind, dann müssen sie viele verschiedene davon sehen, und auch, was mit diesen verschiedenen Körpern immer wieder passiert.
Hätte ich öfter gesehen, wie unterschiedlich die Körper von Menschen geformt sind, wenn das für mich normal gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht nicht für meinen geschämt.
Ich hätte gewusst, dass ich nicht der einzige Mensch der Welt mit Brustwarzen wie den meinen bin, ich hätte nicht Amateur-Pornos ansehen müssen um eine genauere Vorstellung davon zu bekommen, wie normale Vulven und nackte Körper aussehen. Ich hätte vielleicht gesehen, dass ich, während ich überdurchschnittlich viel Cellulite hatte, trotzdem begehrenswert sein könnte.
Und selbst wenn ich es nicht gewesen wäre, wäre mir vielleicht bewusster gewesen, dass ich so viel mehr bin, als mein Körper und dessen Attraktivität. Dass mein Wert als Mensch von viel wichtigeren Faktoren abhängt.
Das Pubertier braucht die Sicherheit der Herde, es muss wissen, dass es dazugehört.
Darum ist es so wichtig, sich nicht beschämt zu sehen, wenn es einen Blutfleck auf der Hose oder riesige Schamlippen hat. Und das geht viel leichter, wenn diese Dinge zur alltäglichen Normalität gehören.
Wenn man den Blutfleck am Klo auswäscht, weil man die weiße Hose lieber fleckenlos hat, und nicht, weil Blut das aus der Vagina kommt kotzeklig und peinlich ist.
BHs sollen getragen werden, wenn es bequemer ist. Und nicht, um mögliche obszöne Abzeichnung der Nippel oder Brustform zu verhindern.
„Die Männer“ haben nicht das Recht auf „uns Frauen“ als Sexualobjekt!
Wir sind Menschen, und wir haben das Recht darauf, unseren Körper anzunehmen, wie er ist. Wir haben auch das Recht darauf, ihn so zu verändern, wie es uns angenehm ist oder gefällt. Egal, ob unsere aktuelle Sozialisierung diese Form als ästhetisch wertvoll erachtet, oder nicht. Die meisten von uns sind mit der Fähigkeit gesegnet, wegschauen zu können, wenn uns etwas nicht gefällt.
Und damit das wieder in die Köpfe vordringen kann, wird es viele Frauen brauchen, die sich der momentanen Norm entgegenstellen.
Damit meine ich der Klarheit halber nicht, dass es sexy Varietäten von Goth über Punk bis fromme Christin braucht, sondern ganz normale Alltags-Frauen, die einfach nicht mehr mitmachen. Die den BH zuhause lassen, wenn sie keinen Tragen wollen. Die Achsel- und aus der Bikinihose lugendes Schamhaar ganz nebensächlich an sich tragen. Die ihren Oberlippenflaum oder gar richtige Bärte stehen lassen. Und sei es nur, weil ihnen das Enthaaren zu blöd ist.
Wir brauchen wieder Körpervarietäten.
FKK-Strände eigenen sich theoretisch super, um dort anzukommen. Die Voraussetzung, sich selbst dafür nackt zu machen, können oder wollen viele aber nicht erfüllen.
Für mich war es unter anderem deshalb sehr heilsam, mich in Hippie-Kreisen zu bewegen. Auf Treffen wie Rainbow-Gatherings war es völlig normal, dass Gekleidete und Nackte wild durcheinander gewürfelt den Tag verbrachten. Das beinhaltete die Teilnahme an Workshops und alltäglichen Arbeiten wie der Suche nach Feuerholz. Wer zu wenig Hippie ist, um an solchen Treffen teilzunehmen, kann sich ganz gesellschaftskonform Bücher kaufen oder Bilder im Internet ansehen.
Es gibt ganz wunderbare Pionierinnen, die genau an dieser Sache dran sind.
Zu ihnen gehören Laura Dodsworth, die Bildbände zu Brüsten, Vulven und Penissen herausgegeben hat, Taryn Brumfitt und Nora Tschirner mit dem Film Embrace, Steph Gongora, die ihre Menstruation auch auf Instagram integriert, sowie Jasmin von „real better me„, die so nett war, die Bilder zur Verfügung zu stellen.
Spezialisten wie Slavoj Zizek befürchten, wie in diesem Artikel der NZZ beschrieben, durch die „Entmystifizierung der Vulva“ einen Verlust der Sexualität. Sie scheinen das Geheimnis und die Scham zu brauchen, die Aufregung. Das Bild von Genitalien, die plötzlich nichtmehr erotisch, sondern als Ausscheidungsorgane wahrgenommen werden, wird gezeichnet.
Kann man Penis oder Vulva ablecken, obwohl sie auch zur Ausscheidung von Urin genutzt werden?! (Und zwar deutlich häufiger als zum Sex.)
Die Antwort der Autoren scheint dies zu verneinen. Und ich frage mich ganz ehrlich, auf welche Weise die bis dahin Sexualität gelebt haben. Zudem – wenn es wirklich die Mystik bräuchte, hätten vor allem Gynäkologen wohl große Probleme, sich fortzupflanzen. Ich habe aber nicht den Eindruck gewonnen, dass die Fortpflanzungsrate in dieser Berufssparte niedriger ist. (Ich lasse mich gerne belehren.)
Diese Art der Sexualität wirkt auf mich sehr verklemmt.
Man muss dabei Bereiche und Funktionen der Organe ausklammern, um Lust empfinden zu können. Aber wenn jemand die eigene Körperhygiene ernst nimmt, gibt es doch keinen Grund, sich zu ekeln? Nur, weil auch Erbrochenes aus meinem Mund kommen kann, ist es doch nicht eklig, ihn zu anderen Zeiten zu küssen?
Körperteile haben viele Funktionen. Auch Genitalien.
Ich finde, sie dürfen nicht auf Sex reduziert werden. Sexualität macht einen idealerweise schönen, bereichernden Anteil im Leben vieler Menschen aus.
Aber sie ist nicht alles. Es gibt so viel mehr.
Und wenn es um die Genitalien anderer Menschen geht, halte ich es für angebracht, ihnen eine gute Beziehung zu diesem Körperbereich zu wünschen, bevor meine eigenen Anliegen überhaupt thematisiert werden. Wir haben kein Bestimmungsrecht mehr darüber, wie Menschen sich präsentieren dürfen, und auch kein Recht, ihnen Scham einzureden.
Und in Beziehung zu einem Menschen, mit dem ich intim sein will, werden die Hormone hoffentlich den Fokus entsprechend lenken.
Fun-Fact: Selbst in den letzten europäischen Kriegen scheint das Entblößen der Vulva Teil gewesen zu sein. Interessanterweise scheint es, zumindest laut dem Buch zur „Sexologie des vaginalen Orgasmus“ von Karl F. Stifter zu uralten Kriegsstrategien zu gehören, dass Frauen ihre Vulven dem Feind entgegenstrecken, um ihn abzuschrecken.
Stifter schreibt, dass je nach gewünschtem Grad an Provokation Frauen in indigenen Kulturen auch entweder den Schurz lüpfen, um sich über jemanden lustig zu machen, oder bei kriegerischen Auseinandersetzungen auch die Schamlippen auseinanderziehen, um „tief blicken zu lassen“.
Auch die Sheila-na-Gigs auf irischen und englischen Kirchen dürften eher dem Hinweis auf weiblich konnotierte Qualitäten gedient haben, als das Interesse an Sexualität zu mindern.
Es git verschiedene Ansätze dazu, aber sie haben ganz sicher das Spektrum erweitert, eine größere Geschichte erzählt. Sie lehrt uns keine Scham, sondern nutzt ihre Vulva und Vagina bewusst.
Geburt und Tod durch den Schoß der Frau ist eine alte Geschichte, und auch die Erforschung der verschiedenen Arten an Orgasmen, die mit unseren wunderbaren Anlagen möglich sind, regen zumindest mich eher zu freudig-neugieriger Erforschung meiner Möglichkeiten an, als irgendetwas zu entzaubern.
Im Kontakt der Geschlechter ist es dem, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte nach, eher zuträglich, wenn eine Frau in Frieden und entspanntem Verhältnis zu ihrem Körper ist.
Sie schämt sich eben nicht für ihre „Scham“, sondern kostet die Freuden der Sexualität aus, was für etwaige Sexualpartner*innen die Freude ins unermessliche steigern kann.
Also, machen wir doch bitte weiter. Hängen wir überall Abbildungen und Plastiken von Vulven auf, damit ihre Form und Vielfalt, vor allem aber ihre bloße Existenz, sich tiefer im Bewusstsein verankern. Freunden wir uns an mit dem weiblichen Geschlecht, unser Vulva und allem, was den biologisch weiblichen Körper sonst noch ausmacht.
Sprechen wir darüber. Weil andere es nicht tun.
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Ich darf diese anonyme Rückmeldung mit euch teilen:
‚Danke für deinen neuen wertvollen Blogbeitrag! Ich hatte bis fast 18 oder so eigtl gar keine Brüste und daher auch ewig keinen BH, wurde aber gemobbt, lustigerweise nicht hauptsächlich wegen der geringen Größe sondern eben wegen fehlendem BH (das sei unhygienisch, unnormal, ungesund lol, ekelhaft wenn man manchmal die Brustwarzen erkennt), und hab mir dann doch schon weit früher BHs gekauft, die natürlich alle zu groß waren. Weiter gings dann ab der Schwangerschaft. Ob man denn mit so kleinen Brüsten überhaupt stillen kann.‘
#bodyshaming