Brüllen verboten? – Ich sage nein!

Brüllen ist immer kacke.

Über diesen Satz habe ich vor einer Weile sehr lange diskutiert. Solche Keulen halten nämlich als Glaubenssätze wunderbar her. Aber nicht, wenn wir sie gründlich prüfen.
Über drei Tage gezogenen Austausch mit einigen Leuten später, habe ich nun eine wie ich finde wunderbar differenzierte Sichtweise auf das Thema entwickeln können, das mich schon lange begleitet.

Was ist überhaupt die Definition von Brüllen?

Brülle ich schon, wenn ich etwas laut sage? Oder erst, wenn mir fast die Augen aus dem Gesicht springen und ich mit hochrotem Kopf beim Schreien spucke? Wo fängt die Gewalt an? Und können wir einfach übersetzen, dass Gewalt immer kacke ist?

Das können wir nicht, es gibt nämlich schützende Gewalt.

Beliebtestes Beispiel hierfür ist das auf die Straße laufende Kind, während ein Auto naht. Es ist wichtig und gut, das Kind je nachdem entweder „Halt!“ zuzuschreien, oder es festzuhalten. Dabei wird das Kind geschützt und Gewalt auf liebevolle Weise eingesetzt. Sie ist eine gute Lösung für die Not.
Warum ist es trotzdem Gewalt? Beim „Halt!“ schreien vielleicht wegen eventuellem Schreck; das Festhalten kann weh tun, erschrecken, und man schränkt das Kind in seiner körperlichen Freiheit und Selbstbestimmung ein.

Damit sollte auch klar sein, dass Brüllen nicht immer kacke ist.

Wir brüllen dem Kind ja zu, dass es stehen bleiben soll. Und das ist gut so.
In der ursprünglichen Diskussion wurde daraufhin eingegrenzt auf „Wütend brüllen ist immer kacke“. Und es gab auch die Aussage „Wenn sich jemand von mir angeschrieen fühlt, habe ich etwas falsch gemacht.“ Auch dem Stimme ich keineswegs zu.

Ich darf nämlich schützende Gewalt auch für mich selbst einsetzen, mein Kind vor Übergriffen schützen,.. und dabei im Bedarfsfall auch schreien.

Und „sich angeschrieen fühlen“ geht bei einem Skandinavier auch sicher schneller als einem Italiener. Es ist also ziemlich komplex, und es nervt mich mordsmäßig, wenn diese riesigen Themen dann mit Vier-Wort-Sätzen für abgehakt erklärt werden.
Dann noch die Sache mit dem Fokus. Wenn ich mir sage, dass ich nie brüllen sollte – was ist dann in mir präsent? Brüllen.

Dabei will ich doch genau davon weg!

Es passiert auch den besten, geduldigsten Eltern, mal lauter zu werden. Und für mich ist wichtig hin und wieder zu reflektieren. Wann muss ich da ganz dringend versuchen zu vermeiden, dass sowas nochmal passiert? Wo war Schreien okay?

Deshalb fasse ich mal zusammen, was ich zur Thematik bisher greifen konnte.

– Habe ich mich im Vorfeld um friedliche Lösungen bemüht?

– Gab es Handlungsalternativen, die ich nicht gesehen oder nicht angewandt habe?

– Wären diese Handlungsalternativen einfach nur eine leise Form von Gewalt? (Erpressung, Drohung, Entzug von Privilegien,..)

– Wie kommt mein Schreien beim Kind an? Erschrickt es? Hat es Angst vor mir?

– Kann es sich wehren oder weglaufen?

– Wie geht es dem Kind allgemein und im Umgang mit mir, nachdem ich geschrieen habe?

– Welche Worte benutze ich beim Schreien? Oder schreie ich ohne Worte?

– Lade ich meine Gefühle auf anderen ab? Mache ich sie für meine Wut oder meinen Schmerz verantwortlich?

– Mit welcher Motivation schreie ich? Will ich mich ausdrücken, um Hilfe bitten, jemanden dazu kriegen zu tun, was ich will (manipulieren), einfach nur durchdringen, um gehört zu werden?

– Brülle ich jemanden direkt an, oder brülle ich die Wand an?

– Mit welchem Gefühl schreie ich? Bin ich dabei wütend, verzweifelt, oder schreie ich vor Freude?

– Darf jeder schreien, oder nur ich?

– Wie geht es mir mit meinem Schreien? Habe ich den Eindruck, das richtige zu tun? Oder sagt meine Bauchstimme, da läuft grad was falsch?

– Warum schreie ich? Wegen eines gewichtigen Anlasses? Bin ich überlastet und deshalb sowieso reizbar? Machen Wunden der Kindheit mich in manchen Belangen besonders empfindlich?

– Hatte das Schreien irgendeinen nennbaren positiven Effekt? Wenn ja, warum musste ich Schreien, um ihn herbeizuführen?

– Gab es nach dem Schreien ein Versöhnung oder sonstige Entspannung der Beteiligten?

Wer sagt, brüllen ist immer kacke, macht es sich zu leicht.

Genauso wie man nicht davon ausgehen kann, dass Kinder irreparabel geschädigt werden, wenn sie die ganze Palette Emotionen erleben. Es kommt auf die Voraussetzungen an, die bereits bestehende Beziehung. Wenn die Bindung zwischen Eltern und Kind schwach und unzuverlässig ist, wird das Kind stärker davon getroffen, wenn es angeschrieen wird. Weil ihm dann schon eine unglaublich grundlegende Basis fehlt. Ist die Bindung aber eng und stabil, kann in diesem Rahmen auch dynamisch Emotion ausgedrückt werden, ohne etwas für immer kaputt zu machen. Und es liegt im Bereich des Möglichen, dass überhaupt nichts kaputt geht.

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Deshalb achte ich lieber auf eine solide Basis, als an Symptomen herumzudoktern.

Wenn ich tatsächlich glaube, dass brüllen immer kacke ist, weil es meinem Kind und unserer Beziehung in jedem Fall schade, darf ich es nicht tun. Schließlich will ich weder meinem Kind noch unserer Beziehung schaden. Folglich tue ich jedesmal etwas Falsches, wenn ich mich nicht an diesen Glaubenssatz halte.
Ich handle also auch falsch, wenn ich vor Schmerz aufschreie, wenn mir mein Baby in die Brust beißt. Mein Kleinkind mir den Finger die Nase hochrammt. Mein größeres Kind mich mit einem Sprung auf den Bauch aufweckt.
Wenn ich mein Kind anbrülle damit es nicht auf die Straße läuft.
Oder wir gemeinsam im Wald brüllen, weil es Spaß macht.
Wenn ich mich von dem Glaubenssatz befreie, darf ich jedes mal neu bewerten, ob schreien jetzt kacke wäre, oder nicht.

Sprache schafft Wirklichkeit.

Und gerade, wenn man beginnt, alles zu hinterfragen, nach Regeln und Handlungsanweisungen zu suchen, sich an etwas oritentieren will, das edlich richtig scheint in einer Welt voller Gewalt, sind solche Sätze tückisch. Sie machen sich gut als Aufhänger, sind eingängig, wirken auf den ersten Blick vielleicht plausibel. Aber alles, was im schlimmsten Fall übrig bleibt ist ein Gefühl von Unzulänglichkeit, weil das Ziel, nie zu schreien kaum erreichbar ist.

Meist rührt eine so absolute Ablehnung von altem Schmerz.

Am lautesten müssen wir das Schreien und Gewalt im weitesten Sinne verdammen, wenn wir selbst noch Opfer unserer Wunden sind. Die Seite ‚Gegen medizinische Gewalt an Neugeborenen‚ ist z.B. entstanden, weil mein Trauma verarbeitet werden wollte. Weil ich andere Familien vor unnötigen Übergriffen schützen wollte. Und so ist es womöglich auch bei vielen, die für unsere Kinder leiden, wenn sie von ‚Brüllen‘ und ‚Fremdregulation‘ hören.

Sie wollen es besser machen, die Gewalt beenden.

Wenn ich nun aber in absolute Ablehnung allem gegenüber gehe, was mir je wehgetan hat, verneine ich den einen Teil des Lebens. Würde ich beispielsweise medizinische Maßnahmen an Neugeborenen komplett ablehnen, ginge mir die das bereichernde Potenzial das diese Maßnahmen bergen, verloren. Stimmiger ist für mich anzuerkennen, dass es einen Nutzen gibt, und ihn dort zu lassen wo er hingehört. Zu Notfällen,wo es ohne nicht geht.

Ich bin glücklicher wenn ich mir Ziele setze, die im Einklang mit meinen Werten stehen, ohne dabei Strategien auszuschließen.

Mein Ziel ist, keine meiner Schmerzen auf den Kindern abzuladen.
Für mich zu sorgen, damit ich von innen heraus geduldig und freundlich bin.
Die Beziehung zu meinen Kindern so zu gestalten, dass sie meine Patzer mitträgt, die mir garantiert hin und wieder passieren.
Ihnen klar zu zeigen, wenn ich etwas verbockt habe, mich entschuldigen, und um Wiedergutmachung bemühen.
Nur Gewalt anzuwenden, wenn ich nach eingehender Prüfung keine friedlichen Alternativen finde.
Meine Kinder fühlbar zu respektieren und möglichst auch zu stärken, sodass sie sich im Streit wirksam und hörbar erleben. (Bei Bedarf auch im emotional sicheren Rahmen streiten üben, was für andere Situationen ebenfalls hilfreich sein kann.)
Ihnen einen sicheren Rückzugsort zu bieten, wenn sie Abstand zu mir brauchen.
Auch im Affekt umschalten können und zugänglich, emotional verfügbar sein wenn ich merke, mein Kind packt das gerade nicht.

Übersetzt heißt das, ich will die Ursachen ausräumen, wegen denen ich manchmal schreie. Und die Beziehung so stark machen, dass sie Schreien trotzdem aushalten kann, wenn ich keine Alternative sehe, oder sie einmal nicht umsetzen kann.

Das ist für mich ein realisierbares Ziel.

Danke an alle, die mir dabei geholfen haben, indem sie sich gemeinsam mit mir das Thema angeschaut haben!

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Hier schreibt Mira. Hauptberuflich Lebenskünstlerin mit Fokus auf Heilkunde, Mutterschaft und die Entfaltungsprojekte.

2 thoughts on “Brüllen verboten? – Ich sage nein!

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